Sehr geehrte Juroren,
Endlich nähern wir uns dem Ende dieses Verfahrens, das im Dezember 2018 begonnen hat. Ich habe nicht gewusst, dass ein Prozess so lange dauern kann.
Ich wurde einige Tage nach meinen 22. Geburtstag im August 2018 verhaftet, die Polizeibeamten schlugen mit Geschrei die Tür des Hauses meiner Eltern ein, meine kleine Schwester musste sich mit den Händen über dem Kopf hinknien. Während ich das Zerbersten der Tür hörte, hatte ich die Bilder polizeilicher Gewalt bei Festnahmen durch die Polizei im Kopf, wie die Polizeibeamten loslegen und Personen schlagen. Ich bekam Angst und bin dann über das Dach in den Garten der Nachbarn gelangt und dann auf die andere Seite der Siedlung. Aber die Polizei hatte das ganze Viertel abgesperrt und eine Person, die in Socken auf der Straße unterwegs ist, macht sich sehr schnell verdächtig. Ein Polizeibeamter in Zivil begann hinter mir herzurennen und rief mir zu: „komm her, du kleiner Scheißkerl“. In seiner Stimme eine gewisse Feindseligkeit spürend, zog ich es vor, seiner Einladung nicht zu folgen, die, wenn ich „Scheißkerl“ zu ihm gesagt hätte, für Empörung gesorgt hätte.
Ich finde mich also im Garten und dann in der Garage eines Nachbarn wieder, in der Falle. Mit dem Rücken zur Wand, gezwungen auf die Ankunft des Polizeibeamten zu warten, springt dieser auf mich und verdreht mir das rechte Handgelenk, wobei ich ihn das tun lasse. Ich mache ihn auf seine unnütze Gewalt aufmerksam und er antwortet mir: „Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich nicht auf dich geschossen habe“. Von diesem Standpunkt aus schätze ich mich allerdings in der Tat glücklich, noch am Leben zu sein. Es stimmt, dass zahlreiche Festnahmen durch die Polizei die unerfreuliche Tendenz haben, sich in eine Todesstrafe zu verwandeln. Aber dieser traurige Ausgang ist eher für die von rassistischen Zuschreibungen betroffene Einwohner der Arbeiterviertel vorgesehen. In Frankreich vergeht nicht ein Monat ohne Todesfälle bei Festnahmen. Die Tür zur Garage geht letztendlich auf, Polizeibeamten, Gendarmen, die Beamten der BAC & vermummte Zivilbeamte tauchen auf, mit Automatikwaffen in der Hand. Vielleicht 30 Mitglieder der „Ordnungskräfte“.
Der Nachbar, dem die Garage gehört, kommt aus seinem Haus und sagt mir spontan bei Erfassen der Situation: „Geht es Loïc? Möchtest du ein Glas Wasser?“. Diese Bemerkung war ein Lichtblick in der Ernsthaftigkeit und der Schwere der Festnahme, ich tat mein Bestes, um ein Lachen zu unterdrücken und lehnte das Glas Wasser ab, da meine Hände zusammengebunden waren. Zurück im Haus meiner Eltern, um meine Schuhe anzuziehen, kann ich meine Schnürsenkel nicht zubinden und bitte die Gendarmen, meine Fesseln abzunehmen: „Nein, das kann man auch so hinkriegen“ antwortet einer. Ich habe Herausforderungen immer gemocht und versuche es also, aber angesichts der hinter meinem Rücken gefesselten Hände und sogar mit sehr viel gutem Willen ist es einfach nicht machbar. Die Gendarmen lachen und machen sich über mich lustig. Meine kleine Schwester hält sich direkt daneben auf mit der Ernsthaftigkeit gemischter Gefühle, wie ich sie noch nie auf ihrem Gesicht gesehen habe, ihr Blick ist kraftvoll. Sie wirft den Gendarmen spontan ein kräftiges: „nehmen Sie ihm doch die Fesseln ab, damit er sich seine Schuhe anziehen kann“ entgegen. Ihre Stimme enthält eine göttliche Kraft, der Spott verwandelt sich in Verlegenheit. Ich habe die Blicke der Gendarmen sich auf dem Boden verlieren sehen und einer war bereit, mir die Fesseln abzunehmen zu läsen. Hätte meine kleine Schwester gesagt „aber nehmen Sie ihm die Fesseln ab und lassen Sie ihn frei!“, dann wären die Gendarmen vielleicht gegangen und ich hätte meine kleine Schwester kurz umarmen können. Denn danach kamen 1 Jahr und 4 Monate Haft, 1 Jahr und 4 Monate, wo die Wärter selbst im Besucherraum Umarmungen verhindern.
Als ich im Gefängnis in Frankreich ankam, sagte mir ein 2 Meter großer Wärter: „Wenn du mein Auto abfackelst, schneide ich dich in zwei Teile.“. Zwischen dem Polizeibeamten, der bereit ist, auf mich zu schießen und dem Wärter, der mich entzweischneiden will, ziehe es glaube ich vor, in zwei Stücken zu enden. Aber was neben der Bedrohung mit dem Tod beunruhigend ist, ist dass dieser Wärter denkt, ich hätte ein Auto abgefackelt; in diesem Moment wird mir klar, dass der kommende Prozess eine gewaltige Täuschung ist. Indem man jemanden für die ganze Gewalt, die sich bei einer Demonstration ereignen kann, verantwortlich macht, schafft ihr Unklarheiten in den einfachen Gedankengängen der Wärter und Polizeibeamten. Durch eine unverhältnismäßige Anklage ruft ihr eine unverhältnismäßige Behandlung hervor.
Ganze Erklärung: https://eahh.noblogs.org/post/2020/06/17/erklaerung-von-loic-am-17-6-2020-im-so-genannten-elbchaussee-verfahren-uebersetzte-fassung/